Hans Rapp
Im großen Veranstaltungssaal des Alevitischen Kulurvereins für Vorarlberg in Weiler ist aufgedeckt. Auf den Tellern liegen Fleischstücke, eine Getreidespeise und Gemüse. Auf den Tischen stehen auch Teller mit Broten und Früchten. An den Tischen sitzen Frauen und Männer. Es sind weniger Menschen hier als in anderen Jahren. Man ist vorsichtig wegen Corona. Auf einem Podium an der Stirnseite des Raums sitzen vier Männer. Die Stimmung ist erwartungsvoll.
Es ist der letzte Abend des Hizir-Fastenmonats, den die Aleviten jedes Jahr im Februar begehen. An diesem Abend wird das Fasten ein letztes Mal feierlich gebrochen. Als Hassan Özmen am Podium aufsteht wird es still. Alle Anwesenden erheben sich. Feierlich entzündet er drei vor ihm stehende Kerzen. Dann spricht er auf Türkisch ein Gebet. Dabei legen er und die Anwesenden ihre rechte Hand auf ihre Herzen. Das Gebet ist das Zeichen, dass das Fasten vorbei ist. Alle setzen sich und beginnen zu essen und zu trinken.
Hassan Özmen leitet die Rituale des alevitischen Kulturvereins in Weiler. Er hat sie in seiner Kindheit und Jugend in seinem gebirgigen Heimatdorf in der Türkei mit der Muttermilch aufgesogen und sich in Wien in Kursen des geistigen Rates weitergebildet. „Learning by doing“, schmunzelt er. Bei den Gemeinschaftsgebeten der Aleviten werden immer drei Kerzen angezündet, erklärt Özmen. Licht ist heilig. Mit dem Anzünden der Kerzen werden die schlechten Gedanken vertrieben. Eine der Kerzen steht für Gott, die zweite für alle Propheten und die dritte für Ali. Er war der Schwiegersohn des Propheten Muhammad. Wie für die Schiiten hat der Schwiegersohn des Propheten Muhammad auch für die Aleviten eine ganz besondere Bedeutung. Von seinem Namen leitet sich auch ihr Name ab.
Beim Verhältnis zum Islam sind die Aleviten uneinig. Die einen Gemeinden sehen sich als Muslime. Sie sind vor einigen Jahren gesetzlich als Religionsgemeinschaft anerkannt worden. Das alevitische Kulturzentrum in Weiler sieht das etwas anders. Ihre Gemeinschaft hat viel ältere Wurzeln, betont der Obmann des Vereins, Rifat Özmen. Sie kennt weder die täglichen rituellen Gebete noch die Pilgerfahrt nach Mekka. Auch Moscheen haben sie nicht. Gemeinsame Gebete feiern Frauen und Männer gemeinsam in sogenannten Cem-Häusern. Eine Trennung der Geschlechter, die im Islam üblich ist, gibt es nicht. Die Aleviten in Weiler sind bisher nicht staatlich anerkannt. Nurcan Bakmaz, die sich als Generalsekretärin des österreichischen Dachverbandes für die Interessen ihrer Gruppe einsetzt, ist aber zuversichtlich, dass auch ihre Gemeinschaft bald anerkannt wird.
Während dem Essen spielt Yasar Sahin die Laute (Saz oder Baglama) und singt dazu traditionelle, religiöse Lieder. Die Gesänge und die Musik gehören wie die Gebete zum Ritual. Man nennt deshalb das Begleitinstrument auch „telli kuran“, den „sprechenden Koran“. Das betont, wie wichtig dieser Teil der Feier für die Gemeinschaft ist. Sahin ist ein „Dede“. Das Wort bedeutet „Großvater“. Es bezeichnet die alevitischen Geistlichen. Das Amt wird in Familien vererbt, die sich von der Familie des Propheten Muhammad herleiten. In der Familie wird auch das religiöse Wissen weitergegeben.
Nach gut einer Stunde erhebt sich Hassan Özmen erneut. Wieder stehen alle auf. Wieder spricht er, mit der Hand aufs Herz, die Gebete. Dann löscht er die drei Kerzen vor ihm mit seinen Fingern. Es ist das Ende der offiziellen Zeremonie. Einige Männer und Frauen verpacken Brote und Obst in Papiersäcke. Die Besucher/innen nehmen sie mit.
Am kommenden Tag werden die Speisen an Alte und Gebrechliche verteilt. Das Hizir-Fasten ist eng verbunden mit den Bergdörfern, aus denen viele Aleviten stammen. „Hizir“ ist der Name eines Heiligen aus der fernen Vorzeit. Er habe vom „Wasser der Unsterblichkeit“ getrunken und soll bereits Noah und seiner Arche zu Hilfe geeilt sein. Er ist für Aleviten ein Schutzpatron in der Not. „Eile herbei Hizir“ ist ein Ausruf, den man im Alltag oft zu hören bekommt. Das Fest zu seiner Ehre hat eine starke soziale Dimension. Im Winter ist den Armen oft das Essen ausgegangen. Wenn man ihnen Almosen gibt, demütigt man sie. Wenn man aber Lebensmittel nach dem Fasten teilt, können sie alle gut nehmen ohne beschämt zu werden. Der heilige Hizir steht damit auch für die Solidarität unter den Menschen.
„Jeder Mensch kann zu Hizir werden, er kann uns in jeder Gestalt begegnen“, betont Özmen, selbst in der Gestalt von Tieren. Deshalb ist den Aleviten neben der Solidarität unter den Menschen auch der Schutz der Natur wichtig. Und natürlich die Gastfreundschaft.