Der ARD, das ZDF, die BBC haben ihre Journalist/innen für kurze Zeit aus Russland abgezogen, doch der ORF entschied sich gegen einen solchen Schritt. „Wenn wir jetzt gehen, dürfen wir möglicherweise lange nicht mehr zurückkehren. Und dies in einer Zeit, in der die Weltordnung neu geschrieben wird. Wenn man nur noch von außen berichtet, wird Russland zu einer großen schwarzen Box, in die man nicht hineinschauen kann“ so Schneider. Unter diesen Bedingungen fand vergangene Woche der Gesellschaftspolitische Stammtisch mit der bekannten Journalistin statt.
Für Schneider hat die jetzige „Spezialoperation“, wie der Militäreinsatz in Russland genannt werden muss, seinen Ursprung im Jahr 2013. Als Viktor Janukovič, der damalige Präsident der Ukraine, kurz vor der Ratifizierung aufgrund massiver Einflussnahme Russlands das geplante Assoziationsabkommen mit der EU verschob, begangen frustrierte Jugendliche und Studenten zu demonstrieren. Als diese von den Sicherheitskräften zusammengeschlagen wurden, gingen auch deren Eltern und Großeltern auf die Straße, später folgten politische Parteien. Nach monatelangen und zum Teil gewalttätigen Protesten, bei denen auch Zivilisten erschossen worden waren, musste Janukovič zurücktreten. Die neue Regierung wurde von Moskau vom ersten Tag an als „neonazistisch“ bezeichnet. Obwohl heute mit Selenskyj jetzt ein anderer und demokratisch gewählter Präsident an der Macht ist, blieb für Putin die Regierung „neonazistisch“.
2014 besetzten die Russen mit dem Argument, einen Stützpunkt der NATO und einen Überfall der Kiewer Regierung auf die russischsprachigen Krimbewohner verhindern zu wollen, die Krim. In den kommenden Jahren gab Russland hunderttausenden Ukrainern in den von prorussischen Separatisten besetzten und von Moskau unterstützten selbsternannten „Volksrepubliken“ im ostukrainischen Donbass die russische Staatsbürgerschaft. Um die neuen Landsleute nun vor einem angeblich drohenden Genozid durch die „neonazistische“ ukrainische Regierung zu schützen, begann Moskau die sogenannte „militärische Spezialoperation zum Schutz des Donbass“. Nur so darf der Militäreinsatz laut Zensur in Russland genannt werden. Die russische Staatspropaganda spricht seit Wochen von einer „Befreiungsaktion“ der russischen Minderheit sowie aller Ukrainer von der „Nazi-Regierung“. Für Putin war die Ukraine nie ein richtiger Staat, immer ein Teil Russlands. Dies hört sich nach einer Art ‚Heimholung‘ historischer russischer Gebiete an.
Aus diesem Grund ist im Westen die Sorge groß, dass sich Putin auch das Baltikum, Teile von Polen sowie Kasachstans holen möchte. Warum gerade jetzt dieser Überfall gekommen ist, weiß niemand. Vielleicht dachte Wladimir Putin, eine Schwäche im Westen zu erkennen. Angela Merkel ist weg und Joe Biden ist nicht der stärkste Präsident, den die USA je hatten. Allerdings hat er mit Sicherheit nicht damit gerechnet, dass der Westen so scharf, so hart und so schnell reagiert, denn nach dem kurzen Krieg gegen Georgien 2008 und der Annexion der Krim 2014 gab es weit weniger heftige Strafmaßnahmen gegen Russland.“
Was wir jetzt in der Ukraine beobachten müssen, wird die Welt für immer verändern, ist sich die angesehene Journalistin sicher. Wie es weitergehen wird, hängt davon ab, wie lange der blutige Konflikt noch andauert. „Manchmal wünsche ich mir fast, die Ukraine würde kapitulieren, einfach nur damit weniger Menschen sterben und das ganze Land nicht zerbombt wird. Putin führt jedoch nicht nur eine „Spezialoperation“ gegen die Ukraine, sondern seit vielen Jahren auch gegen seine eigene Bevölkerung. So scharf wie jetzt wurde seit dem Niedergang der Sowjetunion nicht mehr gegen kritische Stimmen. Es reicht schon ‚Nein zum Krieg‘ in den Schnee zu malen, um festgenommen zu werden. Viele Europäer stellen sich die Frage, warum die Menschen in Russland nicht stärker gegen den Krieg demonstrieren. Wenn man Gefahr läuft, für 15 Jahren ins Gefängnis gehen zu müssen, überlegt man es sich das zweimal. Zudem gibt es mittlerweile so gut wie keine objektiven Nachrichtenquellen mehr, in denen man das wahre Ausmaß des Krieges erfährt.“
Auf die Frage eines Teilnehmers im Chat, ob die russische Bevölkerung überhaupt die Demokratie anstrebe: „In Russland gab es noch nie eine Demokratie. Es ist schwer, etwas zu vermissen, was man nicht kennt. Es gab eine Art Demokratie in den 90er Jahren, allerdings gab es zu dieser Zeit enorme Wirtschaftsprobleme gepaart mit hoher Arbeitslosigkeit und Kriminalität. Viele Russen verbinden seither Demokratie mit unglaublicher Armut und wirtschaftlicher Anarchie, nicht mit Freiheit, Rechtsstaatlichkeit und Zukunftshoffnung.“
Und was wünscht sich Carola Schneider für „ihr“ Russland: „Ich hoffe sehr, dass dieses Sterben in der Ukraine schnell vorbeigeht, solange gebombt wird, ist es schwer, über die Zukunft nachzudenken. Russland muss nicht unseren westlichen Demokratien entsprechen, aber die Regierung sollte der eigenen Bevölkerung die Möglichkeit geben, sich so zu entwickeln, wie diese es möchte. Die Russen sollten frei über ihre Regierung entscheiden können, soziale und wirtschaftliche Sicherheit besitzen und ganz einfach ein freies, gutes und ruhiges Leben führen dürfen“.