Für den bekannten ORF-Korrespondenten, der live aus Kairo zugeschaltet war, sei es schwierig, eine definitive Bilanz zu ziehen: „Der Prozess der ‚Arabellion‘ ist noch nicht abgeschlossen, denn es gibt laufend neue Konflikte und Umstürze.“ Gerade für Junge sei die derzeitige Situation frustrierend. Die Erwartungen, die viele vor zehn Jahren in die Demonstrationen gesetzt hatten, wurden nicht erfüllt. Nach wie vor regieren in weiten Teilen der arabischen Welt autokratische Regime. „Die Hoffnung, dass die Zukunft des Nahen Osten demokratisch ausgehandelt wird, ist leider weitgehend verpufft.“
Für El-Gawhary ist es generell falsch, die arabische Welt allein über den Einfluss der Religion erklären zu wollen, wie es in westlichen Ländern allerdings oft passiere. Aus seiner Sicht ist das „unseelige arabische Dreigespann“ – nämlich Armut, Ungleichheit und Machtlosigkeit – wesentlich bedeutender. So lebten zwei von drei Arabern in Armut oder seien unmittelbar von Armut bedroht.
Ähnlich verhalte es sich beim Thema Ungleichheit: Die arabische Welt ist weltweit die Region mit den größten Unterschieden – sowohl innerhalb eines Landes als auch zwischen den Ländern. Auf der einen Seite beispielsweise die superreichen Emirate Katar und Kuwait und auf der anderen Seite der Jemen und Sudan, die weltweit zu den ärmsten Ländern zählen.
Und dann wären da noch die autokratischen Systeme, die es den Menschen schier unmöglich machen, Einfluss auf wesentliche Entscheidungen auszuüben, wodurch ein eklatantes Gefühl der Machtlosigkeit bei der Bevölkerung entstünde.
Diese Entwicklungen beträfen Europa genauso wie die Menschen vor Ort. „Grundsätzlich sind wir in einer Schicksalsgemeinschaft verbunden – ob man will oder nicht“, erklärt El-Gawhary. „Es ist ein Fehler zu glauben, dass die arabische Welt weit weg sei.“ Die dortigen Menschen hätten, vereinfacht ausgedrückt, vier Möglichkeiten: Resignation, Flucht, sich einer militanten Organisation anzuschließen oder wieder auf die Barrikaden zu gehen. Davon würden zwei Optionen den Westen unmittelbar und mit voller Wucht treffen.
Ein weiteres Gesprächsthema war die Situation der zehn Millionen koptischen Christen in Ägypten. El-Gawhary hält die Berichte über Christenverfolgungen zwar für übertrieben, allerdings seien massive Diskriminierungen zu beobachten: „Wichtige Positionen im Staat werden niemals von Kopten besetzt werden.“ Auch in den Schulbüchern würde das Gefühl vermittelt, dass Ägypten ein „rein muslimischer Staat“ sei. Grundsätzlich glaube er, dass sich die Konflikte oft an profanen, alltäglichen Streitereien entzünden. „Wenn sich zum Beispiel zwei ägyptische muslimische Bauern um ein Stück Land streiten, dann ist es eine normale Auseinandersetzung. Wenn allerdings einer davon ein koptischer Christ ist, dann wird es schnell zum Religionskonflikt, der eskalieren kann.“
Am Ende der Diskussion lieferte El-Gawhary persönliche Einblicke in sein Leben in Ägypten. Auf die Frage, was er am arabischen Lebensstil zu schätzen wisse, antwortete er: „Hier in Kairo ist das Leben zwar anstrengender, das Leben in Europa dafür langweiliger. Ich kann beidem etwas abgewinnen.“ Er liebe die arabische Welt, weil sie ihn an Themen des Existentiellen bringe und vor Augen führe, welche Privilegien die Menschen im Westen hätten – wie zum Beispiel die Gnade des Geburtsorts.
„Manchmal ist es frustrierend, wenn man den Auftrag bekommt: ‚Karim erkläre mir den Nahen Osten in 1:30 Minuten‘“, erzählt der ORF-Journalist mit einem Augenzwinkern. Aus diesem Grund schreibe er Bücher wie sein aktuelles Werk „Repression und Rebellion“, um den Menschen den Rest der Geschichte erzählen und die Zusammenhänge erklären zu können. Im Idealfall löse er dadurch beim Leser – wie auch bei den rund 80 Teilnehmern des Gesellschaftspolitischen Stammtischs – „ein nahöstliches Aha-Erlebnis“ aus.