Dr. Benedikt J. Collinet unterrichtet Altes Testament und biblische Theologie an der Universität Passau. Er lebt in Innsbruck
Von Dr. Benedikt J. Collinet
Seit über 2000 Jahren begleiten biblische Texte Menschen in ihrem Alltag. In den Texten sammeln sich Zeugnisse der Erfahrungen von Menschen mit Gott und wir Christen gehen davon aus, dass sie durch göttliche Inspiration von immer neuer Aktualität sind. Sie sind ein unerschöpflicher Schatz, doch kein Perpetuum mobile. Die Bibel entfaltet ihre Kraft nicht aus sich selbst, sie braucht uns, damit wir sie leben und ihr dadurch Leben verleihen. Die Bibel sind nicht nur Seiten zwischen zwei Buchdeckeln, sie ist entstanden aus der Menschheitsgeschichte eines Jahrtausends mit Gott und dem, was wir seitdem aus ihr schöpfen konnten.
Zum fünften Mal jährt sich 2025 der Bibelsonntag als Auftakt zur Woche der Einheit der Christenheit. Papst Franziskus führte ihn ein in der Hoffnung, die Bibel wieder mehr ins Bewusstsein der Gläubigen zu bringen. Vor 100 Jahren sah das noch ganz anders aus. Damals kämpfte die Liturgische Bewegung dafür, dass Katholik:innen überhaupt die Bibel (in der Muttersprache) lesen durften. Während die verbotene Frucht besonders gut schmeckt, war die „Freigabe“ der Bibel ab Mitte des 20. Jahrhunderts dem Leseverhalten nicht zuträglich. Die Bibel wurde weiterhin massenhaft gedruckt und verschenkt, verstaubte aber langsam neben anderen Klassikern der Weltliteratur, die auch darauf warten, endlich mal gelesen zu werden. Ein ungelesenes Buch aber ist eine Geschichte, die darauf wartet, erzählt zu werden. Sie ist geduldig und ihre Kraft nimmt nicht ab, während sie am Ruheplatz wartet.
Wie aber anfangen, das werde ich als Bibelwissenschaftler immer wieder gefragt. Wo fängt man bei einem Buch an, dass als heilig gilt und aus dem ich mir spirituell etwas mitnehmen muss.
Zunächst einmal gibt es kein „müssen“. Die Bibel fordert nicht und ich kann mir nicht vorstellen, dass Gott am Jüngsten Tag dasteht und schaut, wie viele Seiten wir geschafft und wie viele Stunden Lesezeit wir verwendet haben. Sie ist eine Art Beziehungsgeschichte zwischen Gott und uns Menschen. Sie hat Höhen und Tiefen, an die wir uns gemeinsam erinnern können. Doch das ist kein Muss. Welche Liebende würde verlangen zu wissen, wie oft und wie lang der Liebesbrief gelesen wurde? Der Brief hilft, die Sehnsucht aufrecht aber erträglich zu halten, bis die Geliebten sich wiedersehen.
Wie bei jedem Buch lohnt es sich auch bei der Bibel, vorne anzufangen. Die Schöpfungstexte sind wunderschön und wohlvertraut. Sie legen die Grundlage und zeigen uns, dass Gott uns von Anfang an liebt und gut gefunden hat. Danach kann man sich im Buch der Bücher beliebig orientieren: einen Tag in den Evangelien lesen, am nächsten vielleicht die Geschichten von Abraham und Sara; oder Sie haben Lust auf Dichtung, dann bieten sich die Psalmen an. Das stetige und wiederholte Lesen öffnet mit der Zeit eine Welt, in die sie eintauchen können. Manches in dieser Welt wird ihnen Kraft geben, vielleicht tröstend oder fröhlich, vielleicht aber auch durch energetisierenden Widerstand. Die Bibel ist eine Kraftquelle an jedem Tag und an je mehr Tagen sie sie nutzen, desto mehr kann sie ihnen geben. Probieren sie es doch mal wieder aus.
Dr. Benedikt J. Collinet unterrichtet Altes Testament und biblische Theologie an der Universität Passau. Er lebt in Innsbruck