„Liebesroman-Verlage feiern Rekordumsätze,“ mit diesen Worten eröffnet Ruth Mätzler ihren Vortrag.: „In einem Artikel der Süddeutschen Zeitung wurde über einen weltweiten Trend zu neoromantischer Trivialliteratur berichtet, dem vor allem junge, gebildete Leserinnen folgten. Eine Klientel, der man wohl eher nicht verdächtigen würde, sich in realitätsferne Schmonzetten zu flüchten.“ Diese Art kitschiger Liebesliteratur wird in einer Auflage von Millionen verkauft, so berichtet die Autorin.
Was fasziniert uns also an realitätsfernen Liebesabenteuern? Darauf hat die in Bonn geborene Psychoanalytikerin, die über langjährige Berufstätigkeiten in verschiedenen Beratungsstellen und eigener Praxis verfügt, eine Antwort: „Einerseits wird vor dem Hintergrund einer solchermaßen stereotypen Rollenverteilung auf Leidenschaft, Verführung und erotische Unterwerfung gesetzt, also auf all das, was heutzutage schnell einmal als sexuell übergriffig plakatiert wird. Gleichzeitig ist der moderne Liebesroman, wie es Marlene Knobloch in der Süddeutschen Zeitung treffend beschrieb, aber auch eine wattige Höhle, in der man versinken kann, während draußen die zunehmend komplexer werdende Welt unterzugehen droht.“ So ein virtueller Ort sei wohl für viele Leserinnen ein idealer Platz, ein Platz ohne „Ghosting“ und ohne sogenannte „toxische“ Verhaltensweisen. Männer tragen in diesen Büchern Kaschmirpullover, riechen gut und Frauen rasieren sich auch im größten Alltagsstress die Achselhöhlen, referiert die Analytikerin.
Jetzt wechselt Ruth Metzler die Perspektive und berichtet aus ihrer langjährigen Praxis als Psychoanalytikerin. Sie beschreibt uns folgende Szenerie: „In meiner psychoanalytischen Praxis sitzt mir eine attraktive, beruflich erfolgreiche junge Ärztin gegenüber, die unter einer quälenden inneren Leere leide. Sie käme sich oft wie abgestorben vor und mit der Liebe würde es auch nicht klappen…“ Die Therapeutin berichtet, natürlich anonymisiert, wie ihre Patientin an den Wochenenden über eine Dating App Männer kontaktierte, mit denen sie unverbindliche sexuelle Begegnungen hätte. „Am liebsten sei es ihr, wenn diese nach dem Sex gleich wieder verschwänden, denn sie fände es unerträglich gleich in der Früh neben einer zerknautschten, restalkoholisierten Person aufzuwachen, an deren Namen sie sich oft nicht einmal mehr erinnern könne. Bei Lichte betrachtet seien diese Männer als Lebenspartner doch wirklich allesamt ungeeignet.“ Eines Tages kam Frau Langer (Name geändert) in die Praxis und berichtete, dass sie sich Hals über Kopf in ihren neuen Kollegen Thomas verliebt habe.
Frau Langer flirtete in den kommenden Wochen mit ihm, was aber zu keinem Ergebnis führte, denn der Angebetete lebte in einer festen Beziehung, die er nicht aufgeben wolle. „Thomas schien alles zu verkörpern, was sich eine Frau zu wünschen glaubte, fast so als sei er einem wie anfangs beschriebenen Liebesroman entstiegen. Eine Realitätsprüfung seines idealisierten Charakters war nicht möglich“, berichtet Ruth Mätzler: „Weshalb Frau Langer enttäuschende Erlebnisse fürs erste erspart blieben. Vielmehr richtete sie sich in der Illusion ein, dass es nur seine eifersüchtige Freundin sei, die ihrem gemeinsamen Glück im Weg stünde.“ Was passierte da in Frau Langers Innenleben? Sie konnte ihre Wut und Frustration über die Weigerung des imaginierten Liebhabers, sich zu trennen, auf dessen Lebensgefährtin umleiten, die sie sich als besitzergreifend, klammernd und rachsüchtig vorstellte. Sie stattete die ihr unbekannte Frau also mit Eigenschaften aus, die eher auf sie selber zutrafen: „Denn eigentlich war es ja Frau Langer, die mit Macht etwas erzwingen wollte. Aber geht es hier überhaupt um Liebe?“
Bei dieser Frage lädt die Referentin uns ein, einen kleinen Exkurs in die psychoanalytische Theorie zu unternehmen. Sie stellt uns eine analytische These von Melanie Klein vor, die mit ihren wegweisenden Arbeiten zu Entwicklungspsychologie und zu psychoanalytischen Kindertherapie bekannt geworden ist. Die 1882 in Wien geborene Psychoanalytikerin war zu der Auffassung gelangt, dass bereits Säuglingen in Bezug auf ihre Betreuungsperson über Liebesfähigkeit verfügen. Aus der Befriedigung der kindlichen Bedürfnisse durch die Mutter (bzw. durch einen Menschen, der die mütterlichen Funktionen ausübt) erwächst jedoch nicht nur Liebe, sondern es entsteht zwangsläufig ein Konflikt, der sich aus dem Hin und Her zwischen Befriedigung (z.B. beim Stillen) und Versagung speist. Da kommen die Begriffe Neid und Dankbarkeit ins Spiel, erläutert die Psychoanalytikerin: „Die Sicherheit des Säuglings ist also nur gewährleistet, wenn es ihm mit Hilfe verlässlich und empathisch agierender Erwachsener gelingt, das nicht ideale, sondern das mit Fehlern und Mängeln behaftete Gegenüber zu lieben.
So wundert es nicht, dass Frau Langer, sich von ihrem Gegenüber immer wieder frustriert abwendete, da sie unbewusst ihrer Abhängigkeit vom Anderen schmerzhaft spürte, erklärt die Referentin. „Die kurzen Episoden trugen zwar den Wunsch nach Intimität in irgendeiner Form Rechnung, führten aber letztlich zu einer Entwertung der Männer und was sie zu bieten hatten.“
Ruth Mätzler führt uns vor Augen, dass die Geschichte von Frau Langer exemplarisch sei für gängige Verhaltensweisen bei der Beziehungssuche. Die Möglichkeit sich seine Partner:innen mittels Smartphone-App auszuwählen wie eine Ware, die man bei Nichtgefallen umstandslos retournieren und austauschen kann, verstärkt die Illusion, es gäbe tatsächlich ein ideales Gegenüber. „Man muss nur oft genug daten, dann wird das „optimale match“ schon dabei sein. Enttäuschungen sind nicht zwangsläufig der Fall, treten aber öfter auf. „Und je defizitärer die frühkindlichen Erfahrungen der Personen gewesen sind, umso störungsanfälliger gestalten sich oftmals die zwischenmenschlichen Interaktionen bei der Suche nach einem Liebespartner,“ so die Sicht der Psychoanalyse.
Also scheint es kein Wunder zu sein, dass parallel zur Kommerzialisierung von intimen Beziehungen der Verkauf von Liebesromanen ansteigt. Das eine bedinge das andere. „Reale Liebesbeziehungen, die neben Höhen und Tiefen eben auch die Mühen der Ebene einschließen, schneiden im Vergleich dazu schlecht ab.“ Abschließend dazu bemerkt Ruth Mätzler: „Aber wie jede stimmungsaufhellende Droge hat auch der Kitsch Nebenwirkungen. In diesem Fall bestehen sie aus einem Verlust an Spontanität, Risikobereitschaft und Lebendigkeit.“