„Braucht Kreativität Liebe oder braucht Liebe Kreativität?“ Fragt Schiemer ins Publikum und meint: „Es mag dem einen oder anderen von euch als eine triviale Frage erscheinen, doch aus der Kreativitätsforschung gibt es hier nur zwei Ja. Die wichtige Frage ist hier nicht ob, aber wie die beiden Begriffe in Zusammenhang stehen.“
Schiemer gibt den Zuhörer:innen in seinem Vortrag zwei Modelle an die Hand. Das erste ist die Rezeptmetapher, das zweite ist die „ungewisse Reise“. Die Rezeptmetapher geht davon aus, dass wir eine gelingende Liebesziehung, also eine romantische Liebe, wie einen Kuchen backen können. Wir müssen nur die richtigen Zutaten zusammenfügen, lange genug warten und dann kommt so etwas heraus wie eine gelungene Liebesbeziehung. Diese "Rezeptidee" gilt auch für die Kreativität, so Schiemer. „Die Kreativität beruht auf bestimmten Komponenten, die man nur zusammenfügen muss. Herauskommen dann wertvolle, neue Ideen.“
Das zweite Modell ist die „ungewisse Reise“. „Wenn man davon ausgeht, dass Liebe mit sehr viel Unsicherheit zu tun hat, man nicht weiß, wann man der Liebe begegnet, wie lange sie anhält, was Liebe überhaupt bedeutet entlang dieses Prozesses“, erklärt der Kreativitätsprofessor und ergänzt: „Es gibt möglicherweise auch Phasen, die lieblos sind. Für die Kreativität gilt das gleiche, es gibt sehr viel Unvorhergesehenes auf dieser Reise, bei kreativen Prozessen weiß man am Anfang nicht, welche Ideen entstehen werden. Und ob sie in irgendeiner Weise erfolgreich sind.“
Zurück zur Rezeptmethode. Kann Liebe oder Kreativität nach Rezept gelingen? Benjamin Schiemer erläutert: „Die Rezeptsicht ist eher eine rückwärtige Sichtweise. Wir schauen uns die Komponenten an, die dafür Sorge tragen, wie das Rezept im Nachhinein aussehen soll. Das ist auch dem Umstand geschuldet, dass wir den ganzen Tag vorgeführt bekommen wie eigentlich die Liebe ausschauen soll. Zum Beispiel durch Filme oder Geschichten.“
Im Gegensatz dazu gibt es die prozesshafte Sicht, sie richtet den Blick nach vorne, erläutert Schiemer. Das funktioniert so: "Man geht nicht von einem bestimmten Ergebnis aus und möchte dann erklären, wie das zustande gekommen ist. Sondern man schaut sich die Prozesse an, was sie hervorbringen.“ Das braucht Mut, denn der Mensch begibt sich auf eine ungewisse Reise und die Kreativität oder die Liebe sind ein mögliches, aber nicht notwendiges Resultat.
Eine noch spannendere Frage, die Schiemer in seinen Forschungen berücksichtigt, ist: Was treibt eigentlich die Dinge an? Man spürt die Begeisterung mit der Dr. Schiemer seinen Forschungen auf den Grund geht. Er empfindet den Umstieg von einer ergebnisorientierten hin zu einer prozessorientierten oder ungewissen Sichtweise als „geniale Sache“.
Und führt als Beispiel dem Publikum eine bekannte Situation vor Augen und fragt: "Warum finden viele Partys in der Küche statt?" Und antwortet: "Weil der Raum der Küche zwischenmenschliche Interaktionen begünstigt." Der Kreativitätsprofessor erklärt: "Man könnte aus der Prozesssicht feststellen, dass die Küche zwei interessante Funktionen hat: Sie vermittelt Unverbindlichkeit und Zufälligkeit." Unverbindlichkeit bedeutet in diesem Kontext, so Schiemer, dass die Interaktionen sich spontan ergeben und man aus ihnen auch wieder spontan austreten kann. Zufälligkeit entsteht, weil die Küche ein Durchzugsort ist. So ist es auch mit Ideen, hebt der Professor hervor, diese sind letztendlich nicht fertig, sondern sie entstehen und verändern sich im kreativen Prozess. „Und in meinen Forschungen hat sich gezeigt, dass Ideen gerade bei Gruppenarbeiten oft in den Zwischenzeiten entstehen. Also nicht in der eigentlichen Gruppenarbeit, sondern der Prozess beginnt schon vorher. Das nenne ich die Zwischenzeitlichkeit.“
Kreativität ist - laut Schiemer - eine ungewisse Reise, etwas was möglicherweise aber nicht notwendigerweise zu Ergebnissen führt. Aus seiner Sicht regt es Denkprozesse an, nur ist unbekannt, welche Art diese Denkprozesse sind. "Das ist wichtig für die Zufälligkeit."
Auch die Liebe ist eine ungewisse Reise im Gegensatz zum Modell Kuchenbacken, wo jedes Rezeptteil schon bekannt ist. Die Liebe muss als etwas gelten, was ein schöpferisches Potential hat, damit man dem schöpferischen Moment in der Liebe Zeit gibt. Der unfertige Moment ist ganz wichtig in der Liebe und diesem Raum zu geben, damit etwas entstehen kann. So sagt Schiemer: „Deshalb ist es manchmal schwierig, wenn man sagt: man nimmt sich Zeit für die Liebe und will dann kreativ sein. Dann ist die verabredete Zeit da und keiner hat Lust kreativ zu sein. Da ist es einfacher in den Zeiten, wo gerade nichts zu tun ist, sich die Zeit zu nehmen etwas entstehen zu lassen und nicht das Handy zu zücken.“