von Ingmar Jochum
Unsere Gesellschaft und die damit einhergehenden Wertevorstellungen befinden sich in einer Krise. Und gerade in herausfordernden Zeiten wie diesen, werden die Moralvorstellungen der Menschen auf eine Probe gestellt. Mit diesem Thema hat sich der Philosoph Prof. Hanno Sauer auseinandergesetzt und fasste seine Gedanken und Studien in seinem neuen Buch „Moral. Die Erfindung von Gut und Böse“ zusammen. Prof. Sauer lehrt Ethik und politische Philosophie an der Universität Utrecht.
Wo liegt der Ursprung unserer Werte? Was sind die wichtigsten moralischen Transformationen der Menschheitsgeschichte? Dabei geht Prof. Sauer fünf Millionen Jahre in der Historie zurück und schlägt schließlich einen Bogen in die Gegenwart. Grundsätzlich gibt es universelle, moralische Werte, die wir alle miteinander teilen, begründet in der menschlichen Natur. Die politischen Positionen sind dabei oberflächlicher, als wir eigentlich glauben. Es ist laut Prof. Sauer also ein überschätztes Phänomen, dass die Menschen gegensätzliche, unüberwindbare Meinungen und Standpunkte haben.
Der Ursprung unserer Moral zeigt, dass wir grundsätzlich kooperationsbereite Wesen sind. Diese Tatsache beschränkte sich allerdings anfangs auf eine sehr kleine Gruppe. Familienmitgliedern half man gerne, je enger das Verhältnis, beispielsweise zu den eigenen Kindern, desto stärker ist dieses Bedürfnis ausgeprägt. Hier wird unterschieden zwischen einem „Wir und Die“. Dazu kommt noch der wechselseitige Austausch: Hilfst du mir heute, unterstütze ich dich morgen.
Im Laufe der Geschichte wuchsen die Gruppenstrukturen an, Zusammenarbeit und Austausch nahmen zu. Diese Abläufe mussten allerdings organisiert werden. Tatsächlich war es so, und wir reden hier von einem Zeitrahmen von vor rund 500.000 Jahren, dass die impulsivsten, aggressivsten, problematischsten Mitglieder der Gruppen entfernt, also umgebracht wurden. Sie wurden praktisch aus dem Gen-Pool entfernt. Das nennt man dann im Fachbegriff „Selbst-Domestizierung“. Das führte zu einem Überleben der Freundlichsten. Es zeigte sich, dass Normen, wenn sie einmal etabliert wurden, auch eingehalten werden müssen. Die Konsequenz ist die Bestrafung.
Soziales Lernen von anderen spielt in der Entwicklung der Menschen eine ganz große Rolle. Der Mensch ist also nicht so sehr darauf angewiesen, was er mitbekommen hat, sondern erwirbt einen Großteil seiner Fertigkeiten im Zuge des Heranwachsens. Kein anderes Wesen ist dazu in der Lage ein Reservoir an Wissen, Ritualen, Normen usw. von Generation zu Generation, über Mechanismen des sozialen Lernens weiterzugeben sowie auch immer wieder kleine
Verbesserungen und Modifikationen vorzunehmen. Das macht den Menschen abhängig von sozialen Lernprozessen. Die Menschen wissen also gar nicht mehr, wie man gewisse Strukturen selber aufbaut, weil man diese bereits übernommen hat.
Politische, wirtschaftliche oder gesellschaftliche Ungleichheiten gab es ursprünglich kaum. In kleinen Gruppen waren alle gleichgestellt. Hier stellt sich die Frage, wie man dann größere Gruppen von mehreren Hundert bzw. Tausenden Menschen organisiert, ohne gesellschaftliche, wirtschaftliche, materielle Ungleichheit in Kauf zu nehmen. Laut Hanno Sauer gibt es dazu noch keine Alternative. Die Herausforderung ist es, ein harmonisches Zusammenleben zu organisieren.
Die Frage, wie es zu dieser Diversität der verschiedenen Regionen der Welt schließlich kam, meint Hanno Sauer: Aus Gründen, die wir gar nicht so genau kennen, begannen Mitglieder der damaligen christlichen Kirche vor rund 1500 Jahren die Verwandtschaftsstrukturen zu schwächen bzw. zu zerstören. An deren Stelle, als Grundprinzip gesellschaftlicher Institutionen, entstanden dann Klöster, Universitäten, Städte oder Unternehmen. Auf diese Weise entstand bei den Menschen eine individuelle Moralvorstellung. Im 20. Jahrhundert zeigte sich, auch im Zuge der Weltkriege, dass man keine Gesellschaften aufbauen kann, die auf einer starren Gruppenzugehörigkeit basieren.
Rassenunterschiede, wie sie die Nationalsozialisten vertraten, gebe es einfach nicht, wie Sauer erläutert. Solche strikten Gruppenzuteilungen führen schlussendlich zu Konflikten und Kriegen und entsprechen im Kern auch keiner modernen Gesellschaft.
Ein vieldiskutiertes Thema der heutigen Zeit ist, wie man mit der Meinungsfreiheit umgehen soll. Gerade bei unwahren, anstößigen oder beleidigenden Aussagen. Die Erfahrung zeige, so Sauer, dass sich solche unmoralischen Ideen im freien Diskurs oft selber disqualifizieren. Die Positionen der
Menschen seien auch gar nicht extremer, es gäbe nur eine höhere Sichtbarkeit dieser Gruppen. Politische und moralische Polarisierung passiert oft durch die sozialen Medien. Und: Die fundamentalen Werte der Menschen finden im Allgemeinen eine sehr hohe Übereinstimmung, gleichgültig wo sie herkommen. Politische Einstellungen dagegen sind sehr viel instabiler und fragiler. Das bedeutet, dass man aufgrund der universellen moralischen Werte die politischen Uneinigkeiten überwinden kann.