Das 72. Filmfestival von Locarno, das heuer inhaltlich und formal von diesen zwei Themen dominiert wurde, ging am 19. August mit der Preisverleihung der Leoparden zu Ende

Foto: Locarno-Preisträgerin Vitalina Varela mit ihrem "Leoparden"

Klaus Feuerstein

Eine Mutter, ein Kind und eine Klosterschwester: Dies ist die Konstellation für die italienisch-argentinische Filmproduktion „Maternal“. Ein Frauenkloster in Argentinien beherbergt junge Mütter und ihre Kinder, die ohne die Unterstützung der Nonnen kaum überlebensfähig wären. Lu, eine dieser Frauen, die selbst noch halb Kind sind, geht lieber auf Partys, in die Disco oder trifft sich mit einem Typen, der sie auch schon verprügelt hat, als sich um ihre kleine Tochter zu kümmern. Dann kommt eine junge Nonne ins Kloster und entwickelt zu dem vernachlässigten Kind eine mütterlich-liebevolle Beziehung. Als Lu wochenlang wegbleibt, übernimmt die Nonne vollends die Mutterrolle. Der Konflikt eskaliert, als Lu – von ihrem Liebhaber abermals geschlagen – zurückkommt und das Kind wieder für sich beansprucht, obwohl dieses lieber bei der Schwester sein möchte. Wer ist die „richtige“ Mutter? Eine salomonische Fragestellung, die auch am Ende des Films nicht beantwortet wird. Andere biblische und kunstgeschichtliche Motive wie die heilige Familie, Madonna mit Kind oder der verlorene Sohn werden in „Maternal“ ebenfalls in interessanten Varianten weitergesponnen.

Die wichtigsten Preise

Die Ökumenische Jury bedachte diesen Film - für die meisten anwesenden Journalisten erfreulich nachvollziehbar - mit ihrem Preis und hält in ihrer Begründung fest, dass selten ein Film das Thema der Mutterliebe so differenziert behandelt habe. Der jungen Regisseurin Maura Delpero gelinge es eindrucksvoll, deren „universale Bedeutung sowohl spirituell als auch leibhaftig konkret durchzuspielen". Den Hauptpreis im Internationalen Wettbewerb, den Goldenen Leoparden, gewann der Film „Vitalina Varela“ des portugiesischen Regisseurs Pedro Costa, der in Locarno bereits 2014 mit dem Regiepreis ausgezeichnet wurde. In ausnahmslos statischen Einstellungen, jede grandios ausgeleuchtet wie ein Gemälde von Caravaggio in beeindruckender Chiaroscuro-Technik, wird in Locarno-typischer Langsamkeit die Geschichte einer Frau von den Kapverden erzählt, die jahrelang darauf wartete, ihren Mann in Portugal zu treffen. Sie kommt jedoch drei Tage zu spät und die Beerdigung des just verstorbenen Gatten hat bereits stattgefunden. Die Hauptdarstellerin Vitalina Vatela, die den selben Namen wie die Protagonistin trägt, hat nicht nur am Drehbuch mitgeschrieben, sondern erhielt auch den Preis für die beste Schauspielerin.

Der Gewinnerfilm des Regiepreises „Les enfants d´Isidora“ beeindruckt ebenfalls durch die Zeit, die er sich für die Figuren nimmt. Erzählt werden die Geschichten von drei Frauen aus dem Hier und Jetzt, die Isidora Duncan, die Begründerin des Modern Dance, wesentlich beeinflusst hat: Im ersten Teil studiert eine Tanzstudentin die Choreographie von Duncans „Mother“ ein –  Isidora hatte mit diesem Tanz versucht, die verzweifelte Trauer über den Unfalltod ihrer beiden Kinder künstlerisch zu verarbeiten. Im zweiten Teil wird eine Tänzerin mit Trisomie 21 gezeigt und im dritten eine alte schwarze Frau, die kaum noch gehen kann, aber mit kleinen, manchmal nur angedeuteten, konzentrierten Bewegungen den Tanz von Duncan nachempfindet. Dass auch sie um ein Kind trauert, wird durch ein Foto von einem Jungen und eine brennende Kerze angedeutet – eine Familiengeschichte der besonderen Art.

Schweizer Familiengeschichten

Auffallend häufig wurde in Locarno das Thema Familie von Schweizer Filmemachern aufgegriffen: Der Filmklassiker „Höhenfeuer“ von Fredi Murer aus dem Jahr 1985, der anrührend eine Liebesgeschichte zwischen zwei Geschwistern aus dem Schweizer Bergbauernmilieu erzählt, beeindruckt noch immer. Fredi Murer hat in Locarno den Preis für sein Lebenswerk erhalten und war bei der Vorführung als charmanter Moderator anwesend.
Spektakulär entwickelt Samir, ein Schweizer Autor und Filmemacher mit irakischen Wurzeln, seinen Film „Bagdad in my Shadow“ als spannenden Thriller und berührendes Melodram über Geheimdienst, Folter und den Versuch irakischer Einwanderer in London Fuß zu fassen. Am Ende erweisen sich die Familienbande als wesentlichstes handlungsbestimmendes Motiv.

Zwei weitere Schweizer Spielfilme nähern sich dem Thema auf komödiantische Art: „Wir Eltern“ erzählt die Geschichte von pubertierenden Jugendlichen, die ihre Eltern dazu bringen, zuhause auszuziehen, und „Wolkenbruch“ schildert in einem für alemannische Ohren verständlichen Jiddisch die Schwierigkeiten eines jungen Mannes mit seiner jüdisch-orthodoxen Familie in Zürich, als er sich in eine Nichtjüdin, eine Schickse, verliebt.

Der Journalist Daniel Vogel bringt sich ebenfalls mit seinen jüdischen Wurzeln in seine Doku „Shalom Allah“ ein. Damit gewinnt der Film eine subjektive Dimension, mit der er auch seine eigene Perspektive auf das Thema immer wieder problematisiert. Sein Thema sind Schweizer, die zum Islam konvertiert sind. Am Beispiel einer Familie, in der nach der Konversion der Eltern auch eine Tochter übertritt, die andere aber Konfirmation feiert, zeigt der Regisseur eindrücklich die von ihm behauptete Möglichkeit, Religion als Miteinander statt als Abgrenzung und Ausschließen zu leben.

Retrospektive und cineastische Höhepunkte

„Black Light“, eine Retrospektive über afroamerikanisches Kino, zeigte neben manchen weniger bekannten Filmen auch Klassiker von Spike Lee und Quentin Tarantino. Besonders beeindruckend war „Orfeu Negro“ von 1959 auf einer großen Leinwand in seiner ganzen Farbenpracht wiederzusehen. Die Verbindung vom Karneval in Rio mit dem Orpheus-und-Eurydike-Mythos bezaubert immer noch.

Für Cineasten gab es zwei besondere Highlights: Bela Tarr war persönlich anwesend und präsentierte sein Opus Magnum „Satantango“, ein siebenstündiges Epos in grandiosen Schwarzweiß-Bildern und mit einer endlos ruhigen Bedachtsamkeit erzählt, das die Zuschauenden völlig in den Bann zieht und nie langweilt. Andere Filme des Festivals, bei denen die Langsamkeit Selbstzweck zu sein schien – dass man damit in Locarno gewinnen kann, dürfte sich herumgesprochen haben – verärgerte Teile des Publikums oder ließ es zwischendurch in einen sanften Schlaf flüchten. Auch Alain Tanners ebenfalls in Schwarzweiß gedrehter „Charles mort ou vif“ aus dem Jahr 1969 überzeugt heute noch in einer großartig restaurierten Fassung: Ein Unternehmer in fortgeschrittenem Alter verlässt seine Familie und seinen Betrieb, um mit einem jungen Paar auf dem Land in einfachen Verhältnissen eine alternative 68er-Variante von Familie zu leben.

Familie und Langsamkeit

Interessant und ungewöhnlich ist die Tatsache, dass die Hauptjury den Preisträger der Ökumenischen Jury mit einer besonderen Erwähnung ehrte und diese umgekehrt deren Goldenen Leoparden lobte. Der originellste sozial-realistische Familienfilm und der ästhetisierende Kunstfilm, der seine Geschichte in eindringlicher Langsamkeit erzählt, sind die verdienten, überzeugendsten Gewinner des Filmfestivals von Locarno.

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