Die Ökumenische Jury war mit ihren Preisen auch beim diesjährigen Filmfestival von Locarno wieder näher bei Publikum und Kritik als die Internationale Jury.

Klaus Feuerstein

Der Preisträger der Ökumenischen Jury

Sibel, eine junge stumme Frau, lebt in einem kleinen Dorf in Anatolien. Die Bewohner kommunizieren über größere Distanzen mittels einer Pfeifsprache. Mit Hilfe dieser kann sich auch Sibel verständlich machen. Die meiste Zeit verbringt sie aber allein im Wald, denn aufgrund ihrer Behinderung wird sie aus der Dorfgemeinschaft ausgeschlossen. Sie ist auf der Suche nach einem Wolf, der angeblich dort herumstreifen soll und den Leuten Angst macht. Doch statt auf das Tier trifft Sibel einen jungen Mann, der sich verstecken muss, weil er sich dem Einberufungsbefehl in die Armee entzogen hat. Damit beginnt eine ungemein spannend erzählte Geschichte über das Leben in der türkischen Provinz, Außenseiter, Liebe, Emanzipation und alte Mythen. Der Film zeige ein «kraftvolles Bild einer Figur, die patriarchalische Strukturen und Identitäten in Frage stellt und so zu einem Beispiel für die Würde der anderen Frauen in der Gemeinschaft wird», heißt es in der Begründung der Ökumenischen Jury.

Lobende Erwähnung für Filme aus Singapur und den USA

Nur eine Lobende Erwähnung gab es von der Ökumenischen Jury für „A Land Imagined“ von YEO Siew Hua, der den Hauptpreis der Internationalen Jury, den Goldenen Leopard, gewann. Hintergrund ist der Prozess der Landgewinnung in Singapur durch Aufschüttung des Meeres. „Der Film, der Realität, Virtualität und Träume geschickt miteinander verknüpft, konzentriert sich auf die Untersuchung des Verschwindens von Arbeitern. Daraus entwickelt sich eine Reflexion über die Bedeutung von Grenzen, nationaler Souveränität und wirtschaftlicher Ausbeutung in einer globalisierten Welt sowie über die reale Möglichkeit der Solidarität zwischen Menschen aus verschiedenen Orten und Kulturen.“ (Ökumenische Jury)

Eine weitere Lobende Erwähnung vergab die kirchliche Jury an „Diane“ von Kent Jones aus den USA. Vor dem Hintergrund einer winterlichen Landschaft führt der Film über kurvenreichen Straßen zu den Orten der Selbstaufopferung der über 70-jährigen Diane im Dienste für andere. Zunehmend wird aber „unsere Aufmerksamkeit nach innen auf die Versöhnung mit ihrer Vergangenheit gerichtet. Der Film zeigt die Spannung von Schuld und Vergebung; er visualisiert Momente der Transzendenz, die durch die Routine von Dianes täglichem Leben scheinen.“ (Ökumenische Jury)

Religiöse Themen in Locarno

„Fortuna“ des Schweizer Regisseurs und Fotografen Germinal Roaux, der schon in Berlin zwei wichtige Preise gewonnen hatte, ist ein Flüchtlingsfilm der besonderen Art. In schwarz-weiß und minimalistischer Form gedreht, wird die Geschichte des 14-jährigen Flüchtlingsmädchens Fortuna aus Äthiopien erzählt, das in einem Hospiz auf dem Simplonpass Aufnahme gefunden hat. Besonders beeindruckend ist das Plädoyer des Hospiz-Abtes (Bruno Ganz) für Nächstenliebe und die Debatte der Mönche, ob sie in Anwesenheit der Flüchtlinge noch ihrem Auftrag zu einem kontemplativen Lebensstil nachkommen können.

Ein in anderer Hinsicht außergewöhnlicher Film ist die Dokumentation „M“ der Französin Yolande Zauberman, der den Spezialpreis der Internationalen Jury erhielt und von der Kritik kontrovers diskutiert wurde. „M“ steht für Menahem Lang, einen Kantor mit einer grandiosen Stimme, der in einer ultraorthodoxen jüdischen Gemeinde als Kind mehrfach vergewaltigt wurde. Der Film gibt ihm die Möglichkeit, sein Trauma vor anderen Menschen zu formulieren und mit anderen zu teilen und trotz der erlittenen Qualen wieder eine Annäherung an die wichtige Gemeinschaft seiner Kindheit und an seine Familie zu finden.

Zum Weiterlesen

  • Passionsgeschichten auf der Leinwand ... mehr lesen.
  • Weitere Filme zum Thema „Religion“... mehr lesen.
  • Alle Preisträger der 71. Ausgabe des Filmfestivals von Locarno ... mehr lesen.