Vorarlberg und das Burgenland machen vor, wie es auch gehen kann. In diesen beiden Bundesländern stehen nämlich seit Ende letzten Jahres Frauen an der Spitze der Islamischen Religionsgemeinden. Elif Dagli ist eine davon und mit ihr haben wir über Glaube, Kultur, Vorurteile und natürlich auch über die Religion in Zeiten von Corona gesprochen.

Sie wurden als erste Frau an die Spitze der islamischen Religionsgemeinden in Vorarlberg gewählt. Gratulation! Was bedeutet dieser Schritt für Sie?
Elif Dagli: Als erste weibliche Person in unserem Bundesland dieses Amt innezuhaben ist für mich eine große Freude. Persönlich hat es für mich eine sehr große Bedeutung. Es zeigt mir, dass auch Frauen leitende Funktionen besetzen können und gibt mir Hoffnung, dass vermehrt Frauen an die Spitze kommen und zwar in vielen unterschiedlichen Bereichen. Außerdem bringt die neue Tätigkeit eine große Verantwortung mit sich gegenüber den Muslim/innen in Vorarlberg. Ich hoffe, dass ich sie während meiner Amtszeit sehr gut vertrete.


Ganz persönlich gefragt: Sie sind Muslima, leben in Österreich, tragen ein Kopftuch, arbeiten als Pädagogin, engagieren sich im Kontakt zwischen den Religionen, …. Sie wissen, was es heißt, die Vielfalt zu leben. Ist das Bereicherung, Spannung oder manchmal beides?
Elif Dagli: Eine gottergebene Österreicherin mit einem Kopftuch zu sein, das ist meine Persönlichkeit. Wenn ich meinen Beruf ausübe, verschafft er mir die Möglichkeit, meine Persönlichkeit zu entfalten. Denn mit all meinen Merkmalen fühle ich mich komplett. Sie stärken mich. Denn so bin ich ich. Für mich ist es eine Bereicherung, vielfältig zu sein. Sie verschafft mir einen besseren Zugang zu meinen Schüler/innen. Selten erlebe ich Spannungen, aber bekomme die Erfahrungen von meinem Umfeld mit.
Es sollte selbstverständlich sein, dass man die Menschen respektiert und akzeptiert, egal welche Religion, Kultur, Meinung sie haben. Der Mensch sollte in erster Linie als Mensch gesehen werden. Seine Rechte zu verletzten sollte niemals der Fall sein. Respekt und Akzeptanz sind die Zauberwörter.


Als Frau in der Leitung hat man vielerorts mit Vorurteilen zu kämpfen. Wie erleben Sie das?
Elif Dagli: Die Islamische Glaubensgemeinschaft in Österreich leistet ihren Beitrag und macht große Schritte für einen Reformprozess. In der IGGÖ sind einige wichtige Posten von Frauen besetzt, die hochkompetent sind. Das Umdenken setzt mit dem Generationenwechsel langsam aber sicher ein. Zum Beispiel sind im Team der Islamischen Religionsgemeinde Vorarlberg Frauen und Männer gleichermaßen vertreten. Jede/r trägt gleichwertig Verantwortung und hat das Sagen im jeweiligen Bereich.


Wie wichtig ist es für Sie, dass Sie in Ihre Position gewählt wurden?
Elif Dagli: Überrascht war ich nur insofern, weil ich noch recht jung bin. Ich fühle mich durch das Wahlergebnis nicht aufgefordert, mich meinen männlichen Kollegen gegenüber behaupten zu müssen, sondern der Verantwortung meiner Tätigkeit gerecht zu werden. Der gegenseitige Respekt war und ist der Bestandteil unserer kollegialen Beziehungen. Ich habe bereits zu Beginn meines Amtsantritts von meinem männlichen Kollegen, dem ehemaligen Vorsitzenden Abdi Tasdögen, viel Unterstützung bekommen für einen guten Start.


Was sind Ihrer Meinung nach die Vorteile, wenn sich z.B. auf Österreichebene Frauen und Männer über die Gegenwart und Zukunft der islamischen Glaubensgemeinschaften austauschen?
Elif Dagli: Der Islam legt großen Wert auf Austausch und dies wird vielerorts auch angestrebt. Eine glückliche Familie, eine harmonische Gemeinschaft, eine vertrauensvolle Freundschaft, eine erfolgreiche Arbeit und eine friedensstiftende Religionsgemeinde basieren auf diesem Verständnis. Die Interessen vieler müssen zur Sprache kommen und gehört werden. Nur so kann eine sukzessive Entwicklung stattfinden, in der sich viele Frauen und Männer vertreten fühlen. Ich fühle mich eben auch dieser Zusammenführung beider Geschlechter verpflichtet, damit miteinander offen kommuniziert wird.


Sie sind Religionspädagogin. Aus Ihrer Praxiserfahrung, was bewegt junge Muslim/innen heute? Was sind Themen und Fragen, die sich vielleicht auch schon Kinder stellen?
Elif Dagli: Im islamischen Religionsunterricht werden verschiedene Themen behandelt, wie zum Beispiel der Koran, die Gesandten, ethische Wert, Weltreligionen, etc. Die Kinder sind sehr offen und neugierig. Jedes Kind hat unterschiedliche Fragen, Vorwissen und Zugänge zur Religion. Die Schüler/innen stellen oft Fragen zu Gott, seinem Wesen und Handeln. Außerdem möchten sie auch gerne mehr über andere Religionen wie das Christentum und Judentum erfahren. In der Volksschule in Feldkirch-Levis versuchen wir mit der katholischen Religionslehrerin gemeinsam Stunden zu halten, um Möglichkeiten für die Schüler/innen zu schaffen, die jeweils andere Religion kennenzulernen. Da gab es immer positive Rückmeldungen.
Der Lehrplan des islamischen Religionsunterrichts in Österreich beinhaltet darüber hinaus verschiedene Bereiche des islamischen Lebensverständnisses, wie soziale und ethische Normen, menschliche Beziehungen und die Beziehung zum Schöpfer. Die Fragen der Schüler/innen bewegen sich auch in diesem Bereich. In der Volksschule beschäftigen sich die Schüler/innen mehrheitlich mit dem Gottesverständnis und der Schöpfung. In den Mittelschulen stehen für Jugendliche eher zwischenmenschliche Aspekte und der Umgang mit Andersgläubigen im Vordergrund.


Was ist Ihnen in Ihrer Arbeit als Pädagogin wichtig?
Elif Dagli: Als eine Religionspädagogin ist es mir wichtig,

  • das Interesse der Schüler/innen für das Fach zu wecken, damit die Kinder gerne am Unterricht teilnehmen
  • dass Schüler/innen Grundwissen zu verschiedenen Themen erwerben
  • die Unterrichtsstunden schülerorientiert und geschlechtergerecht zu gestalten
  • die Schüler/innen zur Mündigkeit zu erziehen, damit sie zu unterschiedlichen Fragen einen eigenen Standpunkt entwickeln können
  • dass die Schüler/innen die Vielfältigkeit im Klassenraum erleben. Es sind Schüler/innen aus unterschiedlichen Herkunftsländern. Die Religion und die deutsche Sprache verbindet uns alle im Religionsunterricht.
  • Schüler/innen zu kritischem Denken und Handeln zu bewegen


Natürlich ist es auch eine Herausforderung alles erreichen zu können, da die Stunde in den meisten Fällen nur einmal die Woche stattfindet, aber meine Kolleg/innen und ich versuchen das Beste daraus zu machen, um mündige Schüler/innen mit österreichisch-islamischer Identität heranzubilden.


Nun sind Sie als Vertreterin der Islamischen Glaubensgemeinschaften ja mit vielen verschiedenen, islamischen Gemeinden im Kontakt. Wie sehen Sie persönlich die Situation der Muslim/innen in Vorarlberg? Sind sie hier „angekommen“, fühlen sie sich fremd, sitzen sie bis heute zwischen allen Stühlen, haben sie immer noch mit Vorurteilen zu kämpfen?
Elif Dagli: Diese Frage kann ich natürlich nicht pauschal beantworten. In Österreich „angekommen zu sein“ ist eine sehr persönliche Angelegenheit, das Verständnis darüber variiert von Person zu Person. Jeder der hier lebenden Muslim/innen hat seine/ihre eigene Biographie und Gründe, wieso er oder sie in Österreich lebt. Ich beobachte ein Bemühen des sich „wohlfühlen Wollens“. Mit Vorurteilen haben Muslim/innen täglich zu kämpfen. Es sind aber nicht nur Vorurteile, sondern Urteile! Man hört nicht mehr „seid Ihr Muslime…?“, sondern „Ihr Muslime seid…!“. Das ist eine Veränderung über die Jahre im Umgang mit unserer Gemeinschaft. Ich persönlich habe durch mein Arbeitsumfeld mit Lehrerkolleg/innen sehr selten mit Vorurteilen zu kämpfen und wir Lehrer/innen kommunizieren auch offener miteinander, was ich sehr schätze.


Religionen gibt es ja nicht nur eine. Sie sind auch sehr in der Zusammenarbeit zwischen Islam und Christentum engagiert. Wie wichtig ist es, Ihrer Meinung nach, dass Religionen bzw. deren Mitglieder miteinander in Kontakt und im Gespräch sind? Welche Erfahrungen haben Sie da mit der Reihe „Christen und Muslime im Gespräch“ gemacht?
Elif Dagli: Es ist sehr wichtig, dass die Religionsgemeinschaften in einer pluralistischen Gesellschaft miteinander kooperieren, um gemeinsam Begegnungen zu ermöglichen, damit die Menschen sich besser kennenlernen und die Chance haben, sich über die Religionen auszutauschen.
Mit der Reihe „Christen und Muslime im Gespräch“ konnte ich spannende Erfahrungen machen. Ich habe gesehen, wie groß das Interesse am Dialog ist, weil immer mehr als 100 Teilnehmende anwesend waren. Natürlich ist aber eine einzige Reihe nicht ausreihend, denn es gibt so viele Fragen und Themen, die die Menschen beschäftigen. Deshalb ist es mein Anliegen, als Vorsitzende weitere Plattformen zu schaffen und gemeinsame Kooperation mit der Katholischen Kirche und auch anderen Religionsgemeinschaften weiterhin zu pflegen, Begegnungen zu fördern und einen Beitrag für das friedliche Miteinander zu leisten. In den Vorträgen gab es auch heiße Diskussionen, die immer sehr spannend waren. Natürlich habe ich auch Vorurteile wahrgenommen, aber die Dialogveranstaltungen sind genau dazu gedacht, diese abbauen zu können und einen neuen Blick auf die Dinge zu ermöglichen. Mit einer anderen Religion in Berührung zu kommen hilft auch dabei, sich eine eigene Meinung zu bilden und manchmal auch zu hinterfragen.


Wo gibt es noch Berührungsängste zwischen den Religionen und was könnte man tun, um diese abzubauen bzw. um Brücken zu bauen?
Elif Dagli: In erster Linie muss man offen sein für das Gespräch miteinander. Ich denke nicht, dass es Berührungsängste gibt; es gibt vielmehr ein Desinteresse. Die Medien „beliefern“ uns heutzutage schon mit brisanten Fehlinformationen über Andersgläubige oder Angehörige anderer Kulturkreise oder Ethnien. Wir sollten das Auge vermehrt auf das Miteinander auf lokaler Ebene richten, anstatt uns aufgrund globaler Konflikte aus dem Weg zu gehen. Den Schritt zueinander im wahrsten Sinne des Wortes tätigen, um ein richtiges, persönliches Bild voneinander zu bekommen.


Nun hat uns Corona alle in eine neue Situation katapultiert. Soziale Kontakte müssen auf ein Minimum reduziert werden. Das trifft natürlich auch Religionsgemeinschaften, die es ja gewohnt sind, sich z.B. zum Gebet zu versammeln, hart. Wie ist die Stimmung in den islamischen Gemeinden?
Elif Dagli: Es gibt seit Mitte März keine Freitagsbete und Aktivitäten in den Moscheen, alles wurde vorübergehend ausgesetzt. Die Moschee ist ein Versammlungsort, ein Ort der Begegnung und Spiritualität. Sie hat eine wichtige Stellung im Alltag der Muslime. Natürliche geht die Gesundheit vor und die außergewöhnliche Situation bedingt außergewöhnliche Maßnahmen. Deshalb hat die IGGÖ als erste Religionsgemeinschaft in Österreich überhaupt bereits vor den Regierungserlässen strenge Maßnahmen zum Schutz ihrer Mitbürger/innen ergriffen. Muslim/innen haben diese Maßnahmen verantwortungsvoll befolgt. Das verdeutlicht, wie die Muslim/innen nicht nur die Entscheidung der IGGÖ, sondern auch jene der Regierung akzeptieren. Gerade in dieser Fastenzeit herrscht unter den Muslim/innen und Moschee-Verbänden ein Konsens: Das Wohl und die Gesundheit aller Menschen in Österreich hat oberste Priorität. Corona hat uns nicht nur in eine neue Situation, sondern auch alle in das gleiche Boot katapultiert. Es ist eine sehr verunsichernde Zeit für uns alle. Am Ende hat die Krise bewiesen, dass es ein „Wir“ gibt!


Wie lösen die einzelnen Gemeinden das Problem, dass man sich eben nicht mehr treffen darf? Soziale Kontakte sind ja auch in der muslimischen Community eine ganz tragende Säule.
Elif Dagli: Soziale Kontakte sind eine ganz tragende Säule in der muslimischen Community und die Moschee ist eine Möglichkeit, die Kontakte zu pflegen. Trotz Distanz und einem Minimum an sozialen Kontakten haben wir die Möglichkeiten der Technik ausgeschöpft, um in Kontakt zu bleiben. Die Kultur- und Moscheegemeinden haben seit Beginn der Einschränkungen ein umfangreiches Online-Angebot geschaffen, das Vorträge, Predigten, Koranrezitationen und vieles mehr umfasst. Dieses wird gut genützt und begleitet uns spirituell zurzeit auch durch den Ramadan. Die seelsorgerischen Dienste mussten aufgrund der aktuellen Besuchsverbote auf eine telefonische Seelsorge umgestellt werden. Auch diese wird stark in Anspruch genommen. Wie die Bundesregierung verkündet hat, sind ab 15. Mai öffentliche Gottesdienste unter Einhaltung strenger Schutz- und Hygienemaßnahmen wieder möglich. Die anerkannten Kirchen und Religionsgesellschaften wurden dazu angehalten, unter Beachtung der angeordneten Rahmenbedingungen ihre Pläne zur schrittweisen Wiederaufnahme der Gottesdienste autonom auszuarbeiten. Die islamische Religionsgemeinde unterstützt diesen ersten Schritt in Richtung Normalisierung des religiösen Lebens selbstverständlich. Es ist für uns aber klar, dass für die unterschiedlichen Religionsgesellschaften keine einheitliche Umsetzung möglich ist.
Nach langem Abwägen des Für und Wider hat die Islamische Glaubensgemeinschaft ihren Einrichtungen nun einen ab 15. Mai 2020 geltenden Leitfaden für die schrittweise Öffnung der Moscheen vorgelegt. Dieser versteht sich als Empfehlung für moscheeführende Gemeinden, wie sie die von der Bundesregierung vorgegebenen Maßnahmen umsetzen können. Es ist aber keine Aufforderung, die Moscheen unbedingt zu öffnen. Einrichtungen, die die strengen Schutz- und Hygienemaßnahmen nicht erfüllen können, sollen in Erwägung ziehen, auch weiterhin - bis zu einer nächsten Lockerung - geschlossen zu bleiben.
Die Sehnsucht, wieder in die Moschee gehen zu dürfen, ist seitens der Muslim/innen sehr groß, deshalb freuen sie sich, dass die Moscheen wieder schrittweise öffnen dürfen und so einen spirituellen Zugang vor Ort spüren zu können.


Und zum Schluss noch einmal eine persönliche Frage: Was würden Sie sich für die Muslim/innen in Vorarlberg wünschen und was wäre Ihr Wunsch im Kontakt zwischen den Religionen?
Elif Dagli: Ich wünsche natürlich allen Muslim/innen, aber natürlich auch allen Nicht-Muslim/innen Gesundheit, Geduld und Zusammenhalt, um diese Krise so gut wie möglich zu überstehen. Ich habe durch die letzten Wochen bemerken können, dass wir in Vorarlberg als Gesellschaft insgesamt zusammengerückt sind und wünsche mir, dass uns dieses Gefühl auch später erhalten bleibt und auch gepflegt wird.
Den Muslim/innen wünsche ich freilich einen gesegneten und schönen Ramadan und, dass Gott ihre Gebete und ihr Fasten annimmt.
Ich hoffe auf eine weitere gute Zusammenarbeit mit der Katholischen Kirche und allen anderen Kirchen und Religionsgemeinschaften. Es ist immer schön und bereichernd, wenn wir die Möglichkeit haben, zusammenzuarbeiten. Ich und die gesamte IRG Vorarlberg sind dafür sehr aufgeschlossen und freuen uns, wenn auch an uns mit Ideen für gemeinsame Projekte herangetreten wird.

 

Zur Person

Elif DagliElif Dagli aus Mäder (geb. 1991) ist neue Vorsitzende der Islamischen Religionsgemeinden in Vorarlberg. Nach dem Abschluss der Handelsakademie setzte sie ihre Ausbildung mit einem Bachelorstudium der islamischen Religionspädagogik fort. Derzeit unterrichtet  Elif Dagli u. a. an der Volksschule in Feldkirch-Levis.

 

 

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