Gedanken zum Sonntag von Bischof Benno Elbs

Manchmal würde ich gerne in die Zukunft blicken können. Wie sieht die Welt aus in fünf, zehn oder 20 Jahren? Welche Probleme werden gelöst sein? Welche drohen, in eine Katastrophe zu münden? Was können wir heute schon tun, um die Weichen für eine gute Zukunft zu stellen?

Von Künstlern – Schriftstellerinnen, Musikern, Kabarettistinnen, Malern… – sagt man, sie hätten eine prophetische Gabe. Ähnlich den alttestamentlichen Propheten ist ihnen ein scharfes Gespür für gesellschaftliche Entwicklungen eigen. Sie können aufrütteln, den Finger in die Wunden legen, zuweilen auch trösten. Einer von diesen prophetisch begabten Menschen ist für mich der jüdische Schriftsteller Paul Celan, der vor kurzem seinen 100. Geburtstag gefeiert hätte. Im Jahr 1948 schrieb er ein Gedicht mit dem Titel „Corona“. Natürlich spricht er darin nicht von der Pandemie, die unser aller Leben seit über einem Jahr auf den Kopf stellt. Und dennoch scheint er besonders in den letzten Versen auf unsere Situation Bezug zu nehmen: „Es ist Zeit, dass es Zeit wird. Es ist Zeit.“
Die Ungeduld und der Zeit-Druck, die mir in diesen Zeilen entgegenkommen, spüre auch ich in mir. Viele Menschen haben in den letzten Tagen in ähnlicher Weise zu mir gesagt: Es ist Zeit, dass unser Leben wieder so wird wie früher. Es ist Zeit, gemeinsam und ohne Einschränkungen einen Gottesdienst zu feiern. Es ist Zeit für eine Umarmung. Für einen Besuch bei den Großeltern. Für Urlaub und Freizeitaktivität. Für Kunst und Kultur. Und vieles, vieles mehr. „Es ist Zeit, dass es Zeit wird.“

Verzeihen und versöhnen

Allein: Es ist noch nicht Zeit. Unser Herz spricht eine klare Sprache, die Infektionszahlen leider auch. Es scheint, dass noch einige schwierige Wochen vor uns liegen. Und trotzdem können wir uns jetzt schon auf jenen Wendepunkt vorbereiten, ab dem unser Leben wieder in halbwegs normalen Bahnen verläuft. In diesem Zusammenhang fällt mir ein Satz eines deutschen Politikers ein, der meinte, dass wir uns in einigen Monaten vieles zu verzeihen hätten. Vielleicht ist das auch ein Leitwort für die diesjährige Fastenzeit: verzeihen und versöhnen. Denn dass es im Moment viele Spannungen und Konflikte gibt, ist nicht zu leugnen. Es gibt Konflikte in den Familien, bei denen es immer öfter auch zu Gewaltanwendung kommt. Es gibt Spannungen zwischen denen, die seit Beginn der Pandemie ihrer gewohnten Arbeit nachgehen können, und jenen, die seit Monaten in Gesundheits- und Pflegeeinrichtungen an der Grenze der Belastbarkeit arbeiten. Und alle, die ihren Job verloren haben oder ihrer Arbeit nicht nachgehen können – wie sollen sie nicht verzweifeln aus Angst um ihre Existenz? Die soziale Kluft, die diese Pandemie in unsere Gesellschaft zu reißen droht, ist enorm. Der Abstand, den wir halten, rettet Leben, hat zugleich aber auch gravierende Auswirkungen auf die Zukunftschancen anderer. Umso mehr braucht es Worte, die zusammenführen, und Taten, die Menschen miteinander verbinden. Durch Verzeihen und Versöhnen können Brücken gebaut werden.

Lichtblicke

Was aber kann uns Hoffnung und Zuversicht schenken für die kommenden Wochen und Monate? Vielleicht sind es die kleinen Lichtblicke des Alltags, wie ihn die Jünger Jesu auf dem Berg Tabor erlebt haben. Lichtblicke, in denen mir z. B. die Bedeutung einer Beziehung oder der Familie wieder bewusst werden. Oder in denen ich die Erfahrung mache, wie wichtig der Glaube und das Vertrauen sein können, dass Gott die Welt und mein Leben in seinen Händen hält. Ein Lichtblick kann auch ein spontanes „Danke“ sein für eine Glückserfahrung des Alltags: für ein Gespräch, ein gutes Wort, einen Blick, für die langsam erwachende Natur.
Es ist Fastenzeit: Zeit für Versöhnung und Verzeihen; Zeit für Lichtblicke im Leben; Zeit für uns alle, die Zuversicht trotz allem nicht wegzuwerfen.

Bischof Benno Elbs