Mitte August haben elf junge Erwachsene bei den diesjährigen Sommer-Exerzitien eine Woche in Stille verbracht, um im Schweigen Kraft zu tanken, dem Klang des Wort Gottes zu lauschen und ihr Leben neu zu ordnen. Die jungen Erwachsenen lebten, aßen und beteten miteinander sieben Tage in der neu errichteten Zukunftswerkstatt in Innsbruck. Die Berufungspastoral lud dazu erstmals in Zusammenarbeit mit der Zukunftswerkstatt ein. Betreut wurden die Exerzitien von Simon Kopf und Helmut Schumacher SJ.

Von ihren Erfahrungen bei der Auszeit mitten im Sommer spricht eine Teilnehmerin, Laura Meemann, im folgenden Text.

Von Wundern voll

„Was ist eigentlich ein Wunder?“ Die Frage steht plötzlich einfach so im Raum. Er*Sie hat sie gestellt und ich frage mich, ob ihm*ihr die Reichweite klar ist. Vermutlich schon.

Wir sitzen zusammen im Garten. Vielleicht zum letzten Mal in dieser Kombination. Vielleicht auch nicht, ich meine, wer weiß das schon so genau. Ist das ein Wunder? Ein Wunder, dass wir alle da sind, dass wir noch da sind, geblieben sind trotz oder gerade wegen allem? Themen wandeln sich, werden schwerer, Tränen fließen, Lebensabschnitte enden.

Wir sitzen im Garten. Die Sonne fällt durch die Äste der Bäume, die Blumen blühen in allen erdenklichen Farben und die Grüntöne der Hecke sind kaum zu zählen. Für einen kurzen Moment steht die Welt still. Als sie sich wieder zu drehen beginnt, ist sie langsamer. Alles wird bleiben, wie es ist, sagen sie. Was ist dieses „wie es ist“? Und was heißt eigentlich bleiben, wo doch alles im Fluss ist? Nichts wird je wieder so, wie es war. Ob das ein Schock, ein Wunder oder einfach die Wahrheit ist, bleibt wohl ein Geheimnis. Alles geschieht genau so genau einmal. Doch dieses eine Mal im Garten hat meine Welt dazu bewegt, sich langsamer zu drehen.

„Was ist eigentlich ein Wunder?“ Das fühlt sich eher nach Wunde an. Da fehlt doch was. Ob er*sie sich das gedacht hat, sodass aus jeder Wunde mal ein Wunder werden kann?

Wir sitzen über den Dächern der Stadt. Hunderte Kilometer von dem Garten entfernt. Die Welt ist noch nicht ganz wach, ich irgendwie schon und irgendwie auch nicht. Wach ist seit dem Nachmittag im Garten ein anderer Zustand geworden.

Langsam erwacht die Welt. Aus dunklen Tönen werden hellere, wird ein Leuchten. Die Wolken beginnen rot zu brennen und auf den Spitzen der Berge, die uns umgeben, scheint schon die Sonne. So wird sie bald auch hier auf den Dächern scheinen. Langsam geht sie hinter den Bergen am Ende des Tals auf und ich denke, dass das vielleicht ein Wunder ist. Einfach nur, dass es das gibt. Dass es uns gibt und wir hier sind. Dass wir sind. Dass die Stille so laut und Licht so hell ist und alles erfüllt. Lichtdurchflutete, in sich ruhende laute Stille. Und ein neuer Morgen.

„Was ist eigentlich ein Wunder?“ Die Frage erfüllt wieder den Raum und ist Frage und Antwort zugleich. Sie ist in sich mehr als eine Frage, sie ist ein Gefühl. Ich frage mich, ob er*sie das geahnt hat.

Wir sitzen in der Küche. Blicke gehen durch den Raum, treffen sich an der Zimmerdecke. An den Holzbalken, den weißen Wänden, dem bunten Sessel. Treffen sich und treffen sich auch nicht. Es gibt Verbindungen, die entstehen auch ohne Worte. Oder gerade ohne Worte. Blicke sind eine Sprache, die viel Mut erfordert, denke ich. Mein Blick wandert durch den Raum. Ab und an trifft er einen anderen. Einen voll Sorge, einen anderen voll Fragen, und wieder einen anderen voll Freude und Erfüllung. Einen Blick, der so viel mehr aussagt als tausende Worte. Verständigung zwischen den Welten, in denen wir schweben. All diese Welten sind zugleich in diesem Raum. Mein Moment in dem Garten trifft auf Wohnzimmer, Küchen, Kirchen, Keller, Büros, Wohnungen. Die Menschen in meinem Garten treffen Menschen in den anderen Räumen, treffen Menschen, die ihre eigene Geschichte leben, Menschen, die sich nie begegnen werden und sich hier doch näher sind als so viele Menschen, die sich wirklich getroffen haben.

Ob das ein Wunder ist? Vielleicht. Wundersam ist es in jedem Fall. Und das jeden Morgen, jeden Abend und in allen Küchen-Momenten dazwischen, aufs Neue.

„Was ist eigentlich ein Wunder?“ Vielleicht sind Wunder nur in Verbindung möglich. Wenn Welten sich treffen und sich bereichern. Ich frage mich, ob er*sie das genau so gewollt hat.

Ich sitze auf einem Berg. Ausblick soweit das Auge reicht. Anblick, Ausblick, Weitblick, neue Perspektive. Die Dächer, auf denen wir saßen, als die Welt erwachte, kann ich sehen, die Küche erahnen und der Garten ist mittlerweile zu einem Teil von mir geworden. Der Weg hierher ein Wunder. Ein Wunder, angekommen zu sein. Die Weite ein Wunder. Faszination, die bleibt und wohl auch für immer bleiben wird. Wir sollten das Staunen nicht verlernen, denke ich, und staune noch eine Weile. Viele Ausblicke verbinden sich, einfach dadurch, dass ich weiß, dass auch ihr ins Weite blickt. In welche Richtung auch immer euer Richtungsgefühl euch gerade schauen lässt. Es bleibt unsere Weite.

„Was ist eigentlich ein Wunder?“ Vielleicht schaffen Wunder Weite, weil sie das Gegenteil von Enge, von Angst sind. Ich frage mich, ob er*sie das wusste, als er*sie Fischer*innen mit sich nahm, die ohne Straßen immer neue Wege in den Weiten der Meere finden.

Wir sitzen in Kirchen, Kapellen, unterm Himmelszelt und in „Gott“. Mal einsam, mal zusammen, doch niemals allein. Stille wird greifbar, weil sie den Raum erfüllt und sich all die Geschichten verbinden, in denen wir gerade unterwegs sind. Ich frage mich, ob es ein Wunder ist, dass der Geist, der über den Wassern schwebte, vielleicht auch hier zugegen ist, ab und an und doch recht zuverlässig immer wieder. Wunderbar ist es in jedem Fall. So verweben sich Geschichten in der Mitte des Raumes und erfüllen die Stille mit ihrem Glanz, ihren Fragen, ihrem Ringen und Kämpfen, Genießen und Werden. Und wenn dann die Stille erklingt, in den Tönen unserer Stimmen, scheint es wie ein Wunder. Erleben mit allen Sinnen, das eine Verbundenheit schafft. Mein Garten, meine Fragen, meine Weite, mein Licht verbinden sich mit euren Schatten und Lichtern zu einem wunderbaren Farbenspiel aller Nuancen, Töne und Schattierungen. Mit allem. Wegen allem. Trotz allem. Gott* wohnt im Zwischen hat mal jemand gesagt. Ich glaube, er hat recht.

„Was ist eigentlich ein Wunder?“ Vielleicht ist es das Leise, das Stille, das Unscheinbare. Das Gefühl, dass da Weite ist in der Enge, Licht in der Nacht, ein Mensch in der Einsamkeit, ein Wort in der Sprachlosigkeit, Farben in der Tristesse, Gemeinschaft in Fremde, Gott* im Zwischen. Ich glaube, er*sie hat das so gewollt. Was auch immer das heißt.

Was bleibt? Die Erfahrung, dass mein Garten da ist, wo ich bin. Und dass da Licht ist. Dass da Wunder sind, einfach, weil wir sind. Und, dass es weiter geht. Dass wir unterwegs sind. Dass die Welt mal stillstehen und sich langsamer drehen kann und doch, so habe ich mal gelesen, kommt jeden Tag ein neuer Himmel, geht jeden Tag die Sonne hinter den Bergen auf, auch wenn da Wolken sind. Es braucht Brunnenorte wie diesen, und Menschen, die mit uns Wege gehen. Immer und immer wieder. Und es braucht ein bisschen von dem Glanz, den er*sie in die Wunder des Lebens gelegt hat. Zumindest für mich. Und auch wenn der Garten bleibt, weiß ich jetzt wieder, dass ich dort nicht allein bin. Er*sie ist der*die Ich-bin-da.

„Was ist eigentlich ein Wunder?“ Sein(*ihr). Vertrauen.

Laura Meemann