Wieso ein Geläut früher nicht aufeinander abgestimmt war, dass für den Transport einer Glocke bis zu 24 Pferde benötigt wurden und sie eine durchschnittliche Lebensdauer von 200 Jahren aufwies, ist – neben vielen Daten zu allen Glocken – im neuen Buch „Glockengedächtnis“ von Diözesanarchivar Michael Fliri beschrieben. Heute, Dienstag, 15. Oktober, hält er dazu einen Vortrag.

Elisabeth Willi

Inschrift einer Glocke der Wolfurter Pfarrkirche: „Ich bin der Glocken Königin und brumme über Wolfurt hin; Maria sei gepriesen; vergäss ich je die süsse Pflicht, dann lass mir meine Zunge nicht, mir sei der Turm verwiesen. (…)“ Diese Glocke wurde 1905 gegossen, gemeinsam mit fünf anderen für Wolfurt, die Glockensprüche stammen von Johann Köb. Das Geläute galt als eines der schönsten im Lande. Als der Erste Weltkrieg seine gierigen Hände nach den Kirchenglocken austreckte, gab die Pfarre in einer  Bestandsaufanahme an: „Neues, sehr gelungenes Geläute, dessen Entfernung sehr zu bedauern wäre“. Doch das nützte alles nichts, fünf der sechs Glocken mussten abgegeben werden. Nur eine einzige verblieb, und zwar zur „Aufrechterhaltung der liturgischen Ordnung“ – damit den Wolfurter/innen wenigstens eine Glocke zum Kirchgang läutete. Nach dem Krieg verließ sie Wolfurt dennoch: Als die Pfarre 1923 ein neues Geläut aus Stahl anschaffte, passte sie nicht mehr dazu und wurde verkauft.

1788 Glocken

Im neuen Buch „Glockengedächtnis – Die Glockenkunde des P. Augustin Jungwirth. (Vorarlberg)“ von Diözesanarchivar und Glockenreferent Michael Fliri sind 1788 Glocken verzeichnet. Es finden sich darin u.a. Fakten wie Größe, Verzierung, Guss- oder Zerstörungsdatum jeder Glocke, die Geschichten wie obige erzählen – die übrigens in mancherlei Hinsicht ganz typisch für andere Kirchenglocken ist.
Michael Fliri hatte es sich zur Aufgabe gemacht, die nie fertig gestellte „Glockenkunde“ von Pater Augustin Junwirth aus dem Jahr 1941 für das Gebiet der heutigen Diözese Feldkirch zu vervollständigen. Die im Buch verzeichneten Glocken stammen aus einem Zeitraum von etwa 800 Jahren bis herauf zum Jahr 1941.

Gießereien

Eines der ersten Kapitel behandelt das Thema Gießereien. 92 Glockengießer werden für die 1788 Glocken angegeben, etliche davon stammen aus Vorarlberg. In Feldkirch ist seit dem 16. Jahrhundert eine durchgängige Gusstradition bis 1914 nachweisbar. Oft scheint der Name Graßmayr auf: Von 1785 bis ins 19. Jahrhundert betrieben Graßmayrs in Feldkirch die wichtigste Gussstätte für Vorarlberg. Die Feldkircher Graßmayr waren sowohl mit den Graßmayr-Glockengießereien in Innsbruck als auch in Brixen verwandt.

Eine Glockenlieferung über den Arlberg war lange Zeit wegen der schlechten Straßenverhältnisse sehr schwierig und wegen der geringen Belastbarkeit der Brücken nur für kleinere Glocken möglich. Größere Glocken wurden meist vor Ort gegossen – manchmal sogar in kleinen, abgelegenen Dörfern, wie es zum Beispiel aus Warth überliefert ist. Für eine an die 1740 Kilogramm schwere Glocke benötigte man im Jahr 1774 24 Pferde, um sie den Hügel hinauf nach Bildstein zu transportieren.

Abgestimmt und größer

Manch interessante Entwicklung wird in dem Buch beschrieben, zum Beispiel dass früher eher die Einzelglocke Bedeutung hatte und nicht das Läuten aller Glocken – sie waren daher selten aufeinander abgestimmt. Eine einzelne Glocke hatte Signalwirkung und vermittelte eine bestimmte Botschaft, zum Beispiel die Wetterglocke. Erst im 19. Jahrhundert, als viele Pfarren neue Glocken anschafften – Michael Fliri spricht von der sogenannten „Umgusswelle“ – stimmte man die Glocken aufeinander ab. Und sie wurden zunehmend größer. Auch das Gewicht nahm mehr und mehr zu: Wog die Durchschnittsglocke zwischen 1400 und 1800 noch etwa 200 Kilogramm, waren es nach 1945 550. Eine Gewichtssteigerung um das 2,5fache: eine riesige Zusatzbelastung für viele Läuteanlagen, die noch aus der Barockzeit stammen.

Bis ins frühe 20. Jahrhundert wurde der musikalischen Eigenschaft einer Glocke nicht allzu viel Bedeutung beigemessen – umso mehr aber ihrer künstlerischen Gestaltung. Inschriften und Bilder sollten nicht nur das Gedächtnis an Wohltäter und Würdenträger aufrechterhalten, sondern die Glocken als eine Art immerwährendes Gebet zu himmlischen Fürsprechern machen.

Lebensdauer

Vielfach herrscht die Meinung vor, dass Glocken – wenn sie nicht durch Kriegseinwirkung zerstört wurden – Jahrhunderte überdauert hätten. Falsch, wie Diözesanarchivar Michael Fliri herausgefunden hat. Die Auswertung jener Glocken, die bereits 1915 nicht mehr existierten, ergab eine durchschnittliche Lebensdauer von 200 Jahren. Theoretisch hätten sie länger halten können, aber: Die Wartung war früher eine schlechtere als heute, und auch das Handläuten von Personen, die nicht sachkundig waren, konnte Glocken beschädigen bzw. zerstören. Außerdem war es während der Umgusswelle im 19. Jahrhundert üblich, intakte, erst wenige Jahrzehnte alte Glocken einzuschmelzen sobald sich die Gelegenheit für ein größeres oder wohlklingenderes Geläute ergab. Zwischen 1800 und 1915 wurden in Vorarlberg deshalb an die 120 Glocken mit Gussdatum vor 1800 und 50 Glocken, die nach 1800 gegossen worden waren, zerstört – eine „ganz erhebliche Zahl“, wie Michael Fliri schreibt.

Erster Weltkrieg

580 Kirchenglocken – das entspricht in etwa zwei Dritteln des Gesamtbestandes - wurden während des Ersten Weltkrieges eingezogen und in Geschütze umgegossen. Ausgenommen waren Denkmalglocken und diejenigen, die zur „Aufrechterhaltung der liturgischen Ordnung“ vorgesehen waren. Manche Pfarren verliehen ihre Denkmalglocken an andere, einige halfen sich mit Glocken aus Kapellen aus, wieder andere hatten eine behalten dürfen – deshalb blieben die Pfarrkirchentürme auch während des Krieges nicht komplett still.

Grundsätzliche Einwände seitens kirchlicher Stellen gab es anscheinend nicht, in einem Schreiben des Generalvikariats an die Statthalterei Innsbruck wurde aber festgehalten: Die Einforderung der Glocken werde im Land als schwer empfunden, doch werde dieses Opfer von Klerus und Volk mit patriotischer Bereitwilligkeit geleistet. Denkbar sei auch, so schreibt Michael Fliri, dass die Glockenablieferung teilweise als Fortführung der Umgusswelle des 19. Jahrhunderts und damit als Chance gesehen wurde, endlich bessere und neuere Glocken anschaffen zu können. Im Raggaler Erhebungsbogen steht beispielsweise: „Stimmung des Geläutes schlecht und die Abnahme gegen Entschädigung wünschenswert“.  Die patriotische Bereitwilligkeit – wie im Schreiben angegeben – kannte allerdings auch Grenzen: Es existieren zahlreiche Bittschreiben aus den Pfarrämtern, man möge ihre Glocken verschonen. Vergebens.

Zweiter Weltkrieg

Das Verhältnis der NS-Herrschaft zu Glocken war anfangs eher ideologisch-emotional geprägt, sie sollten in den Dienst der Propaganda gestellt werden. So erging zum Beispiel am 30. September 1939 nach dem Einmarsch in Warschau der Befehl, alle Glocken eine Woche lang täglich eine Stunde läuten zu lassen. Im März 1940 überwogen schließlich die kriegswirtschaftlichen Interessen: In einem Erlass forderte Hermann Göring, der Oberbefehlshaber der deutschen Luftwaffe, dass Glocken ab sofort der Rüstung auszuliefern seien. Sie sollten als Metallreserve dienen. Ursprünglich war die Zerstörung eines Großteils der Glocken beabsichtigt, dies wurde jedoch weniger drastisch als geplant umgesetzt. Besonders wertvolle Geläute wurden privilegiert behandelt, ebenso wie sogenannte „Kriegerglocken“. Diese waren meist mit patriotischen Sprüchen und den Namen der Gefallenen des Ersten Weltkrieges versehen. Manche der Glocken, die dennoch eingezogen worden waren, konnten nach Kriegsende aus dem Sammellager in Bürs zurückgeholt werden. Insgesamt wurden im Zweiten Weltkrieg 420 Glocken zerstört.

Vortrag

 „Geschichte des Glockengusses und Glockeninventars“. Unter diesem Titel stellt Diözesanarchivar Michael Fliri das neue Werk vor. Di 15. Oktober, 19 Uhr, Diözesanhaus Feldkirch. Anmeldung: hermann.amann@feldkirch.at

Das Buch

„Glockengedächtnis – Die Glockenkunde des P. Augustin Jungwirth. (Vorarlberg)“ von Michael Fliri, 738 Seiten, erschienen im Journal Verlag, ist ab November im Buchhandel erhältlich und kostet 42 Euro.
Außerdem erschienen: „Glockengedächtnis – Die Glockenkunde des P. Augustin Jungwirth. (Tirol)“ von Josef Kral und „Glockengedächtnis – Die Glockenkunde des P. Augustin Jungwirth. (Salzburg)“ von Josef Kral.